People | 30.03.2021
Herzlich angesehen: Matriarchinnen
Eines Morgens wachte Maria Haas früh auf und begab sich im noch nebelverhangenen Dorf auf einen Spaziergang mit der Kamera. Nach der Reihe gingen Türen auf: Männer kamen aus den Häusern ihrer Frauen und gingen in jene ihrer Mütter, wo sie tagsüber ihre Arbeit verrichten, sich um die Kinder der Schwestern kümmern.
„Zu sehen, wie die sogenannte Besuchsehe wirklich gelebt wird, war hochspannend“, sagt die Fotografin. Fasziniert von fernen Völkern, die in matriarchalen Gesellschaften organisiert sind, machte sich die Klosterneuburgerin das erste Mal 2016 zu einer Reise auf: zu den Mosuo in China, wo sie die eingangs beschriebene Szene erlebte. Männer verbringen dort in der Regel ausschließlich die Nacht bei ihren Frauen, tagsüber unterstützen sie den mütterlichen Clan.
2018 zog es Maria Haas nach Indien, wo die Khasi, Garo und Jaintia leben, 2019 besuchte sie die Minangkabau in Indonesien, die mit drei Millionen Menschen größte matriarchale Gesellschaft. Außerdem bemerkenswert: Die Minangkabau leben nach islamischem Recht und zugleich matrilinear und matrilokal.
Ihre Reisen erstreckten sich jeweils über drei bis vier Wochen; im Vorfeld plante sie ungefähre Routen, vor Ort passte sie diese spontan Gegebenheiten und Begegnungen an. „Wenn es mir wo gefallen hat, sind wir stehen geblieben und spazieren gegangen, haben Menschen angesprochen und an Türen geklopft“, erzählt Maria Haas, die einmal mit ihrem Lebensgefährten und zweimal mit ihrem Bruder unterwegs war. Sie nahm sich Zeit, plauderte mit den Menschen, genoss ihre freundliche Aufgeschlossenheit. „Ich habe mich langsam herangetastet, habe erst nach den Gesprächen gefragt, wenn es gepasst hat, ob ich fotografieren darf.“
Kürzlich erschien ihr Bildband mit dem Titel „Matriarchinnen“; dafür wählte Maria Haas mehr als 100 farbkräftige und ausdrucksstarke Fotografien von Frauen und Familien aus, die sie mit Erklärungen und Interviewauszügen versah. Dabei blickt man Seite um Seite angesehenen Frauen in die Augen, die zugleich Wärme ausstrahlen. „Dieses selbstverständliche weibliche Selbstwertgefühl hat mich immer wieder beeindruckt – und ganz besonders die älteren Frauen mit ihren lebendigen Gesichtern“, schildert die Fotografin.
Ob nun die Älteste, also die Großmutter, das Familienoberhaupt ist, wie bei den Mosuo in China oder die jüngste Tochter, wie bei den Khasi in Indien, man agiert aus einem natürlichen Respektgefühl heraus, konnte Haas beobachten. „Das sind keine hierarchischen, sondern egalitäre Gesellschaften. Das war besonders schön zu spüren, dass man nicht Macht demonstrieren muss, um Achtung zu erlangen“, beschreibt sie. „Die Matriarchin gibt Anweisungen und ist Ratgeberin. Dabei genießt sie natürliche Autorität, aber keine Befehlsmacht“, erklärt Christina Schlatter, Leiterin des „MatriArchivs“ in Sankt Gallen, im Vorwort zum Buch. Ein weiteres Merkmal matriarchaler Gesellschaften beschreibt sie ebenfalls dort: „Jegliche Kommunikation – auch die politische – beruht auf Konsens.“
Onkel als Mentor. Frauen haben in diesen Gesellschaften die Verwaltung von Hab und Gut inne; sie sind aber vor allem für das Gemeinwohl, also dafür, dass es allen Familienmitgliedern gut geht, zuständig. Das kann gerade in jungen Jahren zur großen Herausforderung werden, wie bei jener Khaddu, einem jungen Familienoberhaupt bei den Khasi, die Maria Haas erzählte, dass sie sehr früh ihre Mutter verloren hat; dafür nehmen die Onkel die Rolle eines unterstützenden Mentors ein.
„Missionieren“ will die Fotografin mit ihrem Bildband nicht, „ich wollte zu diesen Völkern reisen und Bilder entstehen lassen, wie die Menschen dort leben“. Hingegen könne man sich sehr wohl das eine oder andere mitnehmen, findet sie. Wie etwa ihre Werte, dass möglichst niemand durch den Rost fällt, „weil die Jüngeren auf die Älteren schauen“ und „dass es weitgehend gewaltfreie Gesellschaften sind, weil sie auf Gleichwertigkeit und Respekt voreinander basieren“.
Nach matriarchalen Mustern leben auch die Bijago, ein Volk in Westafrika, die Maria Haas ebenfalls bereits besuchte; von der Begegnung mit ihnen erzählen beeindruckende Fotografien auf der Website der Fotografin. Sie will ihre Recherche in Bildern weiter vorantreiben; sobald es die Reisebestimmungen erlauben, zieht es sie nach Juchitán, einer Stadt im Süden Mexikos, wo ebenfalls jahrhundertealte matriarchale Strukturen herrschen.